Die "Eine Lehre" des Buddha

22. Juni, 2009

Der folgende von Munish B. Schiekel übersetzte Auszug aus dem Buch „Ein Herz so weit wie die Welt“ von Sharon Salzberg beschreibt den buddhistischen Schlüsselbegriff dukkha sehr schön.

Buddha lehrte nur eine Sache

Eine Freundin von mir musste einmal ihrem 4-jährigen Sohn erklären, dass das Kindermädchen, welches seit seiner Geburt für ihn gesorgt hatte, jetzt fortziehen werde. Da ihr Sohn sehr an dieser Person hing, erklärte sie ihm das liebevoll und Schritt für Schritt, sagte ihm, dass das Kindermädchen ihn liebe, dass sie sich schreiben könnten und miteinander telefonieren und sich auch besuchen könnten, aber dass das Kindermädchen eben jetzt fortziehen würde und bei ihrer Schwester leben würde. Der kleine Junge hörte achtsam zu und sagte dann zu seiner Mutter: „Mamma, erzähl mir die Geschichte noch einmal, aber mit einem anderen Schluss.“

Es gibt Zeiten in unserem Leben, wo auch wir wünschen, wir könnten das Ende der Geschichte ändern. Manchmal verlieren wir das, was uns am Herzen liegt, werden getrennt von jenen, die wir lieben, unsere Körper versagen, wenn wir älter werden, wir fühlen uns hilflos oder verletzt, oder unser Leben scheint uns zu entrinnen. Dies sind alles Aspekte von dukkha, eine der grundlegenden Lehren des Buddha. Dukkha bedeutet Leiden, Enttäuschung, Unzufriedenheit, Hohlheit, Wechsel.

Buddha hat gesagt: „Ich lehre Eines und nur Eines: Das Leiden und das Ende des Leidens!“. Leiden bezeichnet in seiner Lehre nicht notwendigerweise schwere körperliche Schmerzen, sondern eher die geistigen Schmerzen, die wir erfahren, wenn unsere Gewohnheit an Freude festzuhalten mit der fließenden Natur des Lebens konfrontiert wird, und unsere Erfahrungen unbefriedigend und unkontrollierbar werden.

Als ich zum ersten Mal in Indien war und von Buddhas Lehre über das Leiden hörte, hatte ich das Gefühl, dass mir ein kostbares Geschenk übergeben wurde. Endlich war da jemand, der offen darüber sprach, wie die Dinge wirklich sind. Leiden existiert. So wie es in dieser Welt große Freude gibt, so gibt es auch sehr viel Schmerz. Es gibt wunderbare Zeiten des Zusammenkommens, und es gibt ebenso Zeiten der Trennung und des Verlustes. Es gibt Geburt und ebenso den Tod. Ich hatte das Gefühl, diese Wahrheit zum ersten Mal zu hören, eine Wahrheit, über die niemand sonst sprechen wollte.

Wenn wir versuchen, die Tür zu dieser Wahrheit zu schließen, so erzeugen wir Leiden. In unserer Gesellschaft ist diese Tür oft verschlossen, da wir gelehrt werden, dass Leiden eine Schande ist. Vielleicht schließen auch wir selbst diese Tür, da wir unser eigenes Leiden nicht sehen wollen, oder es anderen nicht zeigen wollen.

Diese Verleugnung des Leidens geschieht oft im Leben der Familien. Manchmal gibt es großes Leiden in einer Familie - Disharmonie, Konflikt, Unsicherheit, Gewalt - und im Versuch, die Kinder vor dieser Wahrheit zu schützen, senkt sich dann ein großes Schweigen herab: das Schweigen des Leugnens und des Ausweichens. Und wenn je darüber geredet wird, so wird das Leiden verpackt und manipuliert, so dass es wie etwas anderes ausschaut. Wenn mit Kindern über schmerzvolle Situationen geredet wird, so ist eine geschickte und angemessene Kommunikation gefordert, da die Kinder ja meist sehr wohl fühlen, was wirklich vor sich geht. Aber wenn das, was ein Kind fühlt, nicht von außen bestätigt wird, entsteht in ihm eine Spaltung - ein Konflikt zwischen dem, was dem Kind erzählt wird und dem, was es intuitiv als wahr erkennt. So lernen die Kinder, nicht sich selbst, sondern nur ihren Eltern zu vertrauen. Wegen Verhaltensmustern wie diesem ist es für alle Beteiligten eine außerordentliche Befreiung, wenn die Wahrheit vom Leiden anerkannt wird.

Aber der Buddha lehrte nicht nur das Leiden, er lehrte auch das Ende des Leidens. Als einer meiner Freunde diesen berühmten Satz des Buddha, dass er nur Eines lehre, hörte, bemerkte er: „Leiden und das Ende des Leidens sind doch zwei Dinge, und nicht Eines.“ Von einem Standpunkt aus sind es offensichtlich zwei verschiedene Sachen - entweder wir leiden, oder wir sind frei davon. Wir kennen ja den Unterschied in unserem Körper, in unserem Herz, im Mark unserer Knochen. Wenn wir aber tiefer in diese Lehre schauen, enthüllt sich uns ihre Einheit. Denn in jeder Erfahrung, selbst in einer schmerzlichen, können wir das Ende des Leidens finden - genau im Herzen dieses Momentes.

Doch wie können wir im direkten Kontakt mit dem Leidens, wenn wir nicht in der Lage sind, „das Ende der Geschichte“ zu ändern, wie können wir dann das Leiden beenden? Dies ist eine der schwierigsten Situationen, der wir im Leben begegnen können. Wir beginnen damit, den Schmerz nicht zu leugnen und die Wahrheit vom Leiden anzuerkennen. Wir resignieren nicht oder werden apathisch; wir schauen in das Leiden und entdecken so die große Fähigkeit unseres Herzens, alle Aspekte des Lebens in unser Gewahrsein einzuschließen. Wenn wir diese Größe unseres Herzens erfahren, so erkennen wir, dass es häufig nicht der Schmerz selbst ist, den wir als so unnatürlich und grausam empfinden, sondern mehr die Einsamkeit des sich im Schmerz alleingelassen Fühlens.

Aber wenn wir uns dem voll öffnen, wird es möglich, eine essentielle Wahrheit über das Leben selbst zu berühren: Leiden in der einen oder anderen Weise ist ein natürlicher Teil der Existenz. Das Wissen um diese Wahrheit gibt unserem Leben Ganzheit und Frieden, es befreit uns von all diesen so erschöpfenden Schauspielereien und Lügen. Manchmal, wenn wir für das Leiden offen sind und seine Wurzeln sehen, erkennen wir auch klar, welche Handlungen das Leiden erleichtern könnten. Zum Beispiel litt der junge Sohn meiner Freundin sehr viel weniger aufgrund der Fürsorge und Unterstützung seiner Mutter.

Als ich noch bei meinem Lehrer U Pandita war, sagte ich unzählige Male zu ihm: „Es geht mir wirklich schlecht. Meine Knie schmerzen, mein Rücken schmerzt, mein Geist wandert überall herum; ich kann nicht praktizieren.“ So viele Male hörte er mir zu und antwortete dann einfach: „Das ist dukkha, nicht wahr?“ Wieder und wieder saß ich vor ihm, schaute ihn mit enormer Erwartung an, wartete darauf, dass er eine magische Lösung vorschlug - irgendetwas, damit die Schwierigkeiten weggehen würden. Und wie ich so voller Hoffnung und Furcht wartete, antwortete er einfach: „Das ist dukkha, nicht wahr?“

Anfangs war das enttäuschend, doch mit der Zeit wurde U Panditas Antwort sehr befreiend für mich. Nichts, was ich tun oder ändern könnte, ließ sich vergleichen mit der Kraft und Freiheit dieses unmittelbaren Gewahrseins des offenen Herzens: „Das ist dukkha.“ Letztlich führten mich U Panditas Worte zum Verständnis, dass meine Schwierigkeiten nicht einfach nur ein persönliches Drama waren, sondern eine Öffnung hin zu einem wahren Aspekt des Lebens. Das Leiden muss gesehen und anerkannt werden, nicht um darin zu versinken oder verloren zu gehen, sondern um offener für die Wahrheit und für alle Wesen zu werden.

Es gibt Zeiten, wo wir „das Ende der Geschichte“ nicht ändern können, wo wir nichts machen können, damit das Leiden weggeht. Aber dieses Ende verändert sich auf eine natürliche Weise, indem wir uns der Wirklichkeit vor uns mit Achtsamkeit und Mitgefühl verbinden. Dies ist die Eine Lehre des Buddha: die Wahrheit vom Leiden ist zugleich der Weg zum Ende des Leidens.

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